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Extraktivismus: Wenn Länder ausgebeutet werden

Für begehrte Rohstoffe werden Länder und Umwelt ausgebeutet. Die gesellschaftlichen Folgen sind enorm.

Forschung

Es sind Berichte und Bilder aus den Nachrichten, die uns oft sprachlos machen: Regenwälder werden abgeholzt, Menschen arbeiten unter schlimmen Bedingungen in Minen. Die Regierungen von Staaten ruinieren nicht nur die Umwelt ihrer Länder, sondern auch die Gesundheit der Menschen. Die von U Bremen Excellence Chair Professorin Shalini Randeria geleitete Arbeitsgruppe „Soft Authoritarianisms“ untersucht, wie diese Formen der Ausbeutung mit bestimmten politischen Regierungsstilen einhergehen. Ein Interview mit Dr. Ulrike Flader und Hagen Steinhauer.

Sie beschäftigen sich in der Arbeitsgruppe mit Auswirkungen des Extraktivismus. Der Begriff steht für eine nicht nachhaltige Herausnahme und Nutzung von Rohstoffen auf Land und in der Tiefsee, aber auch von Daten oder Kulturgütern. Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich genau?

Ulrike Flader: Uns geht es zunächst einmal darum, Extraktivismus als eine zentrale Logik des heutigen Kapitalismus zu begreifen und die verschiedenen Formen, in denen er auftritt, zu betrachten. Obwohl die massive Plünderung von natürlichen Rohstoffen historisch ein Kernbestandteil des Kolonialismus war, haben in vergangenen Jahren auch progressive Regierungen besonders in Lateinamerika immer wieder den Extraktivismus als Entwicklungsstrategie gesehen, mit der sie unter anderem die Armut in ihren Ländern bekämpfen und internationalen Abhängigkeitsverhältnissen etwas entgegen setzen können. Das Ausmaß der Umweltzerstörung, der Enteignung und Vertreibung von Menschen, die damit einhergeht, hat jedoch gezeigt, dass dies keine nachhaltige Lösung sein kann.

Hagen Steinhauer: Wenn wir aus dem Blickwinkel des globalen Südens schauen, sehen wir die Kontinuität von Machtverhältnissen, die über Jahrhunderte gewachsen sind. Wenn man das aber nicht nur historisch betrachtet, sondern auch politisch-ökonomisch, dann stellt sich die Frage: Was hat das, was an kolonialen Strukturen weiterwirkt, mit dem heutigen Kapitalismus zu tun? Und warum nehmen wir die heutigen Machtverhältnisse noch als normal wahr?

Dr. Ulrike Flader von der Arbeitsgruppe „Soft Authoritarianisms“.
© Privat

Ihre Forschungsgruppe „Soft Authoritarianism hat vor kurzem eine internationale Autumn School mit jungen Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt veranstaltet. Hat dieser Austausch einen anderen Blick auf die Thematik gebracht?

Ulrike Flader: Bei der internationalen Autumn School (YISARES - Young International Scholars Autumn Research School) ging es darum, sich aus einer interdisziplinären Perspektive dem Thema Extraktivismus zu nähern. Mit Postdoktorand:innen, Promovierenden und MA-Studierenden aus 17 Ländern . von Südafrika bis Finnland und Chile bis Papua Neu Guinea, wurden über sechs Tage hinweg verschiedene Fallbeispiele und -studien diskutiert. Es ist gelungen, diese verschiedenen Perspektiven miteinander sprechen zu lassen. Immer wieder sind wir daran erinnert worden, dass die Geschichte des Kapitalismus schon immer eine globale, verflochtene gewesen ist und bleibt; aber auch daran, dass ein solcher Austausch eine Chance ist, bestimmte Betrachtungsweisen aufzubrechen und zu hinterfragen.

„Neben Fragen der Umweltzerstörung geht es auch um Teilhabe in Entscheidungsprozessen. Es ist wichtig zu sehen, wie komplex die Zusammenhänge von Politik und Wirtschaft, von lokalen und globalen Kräften sind.“ Ulrike Flader

Um welche Themen ging es?

Ulrike Flader: Schwerpunktmäßig ging es um Ausbeutung von Naturressourcen, wie Gold, Kobalt, Lithium, Kohle, um Gas, aber auch um Agrarproduktion und Fischerei und digitale Daten. Uns interessierten dabei nicht nur die Bedingungen, unter denen Abbau und Ausbeutung stattfinden, und welche lokalen, internationalen, staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren involviert sind, sondern auch die weitreichenden sozialen und politischen Folgen und Widersprüche, die diese Form von Akkumulation beinhaltet. Wir thematisierten beispielsweise die inhumanen Arbeitsbedingungen einschließlich Kinderarbeit, die Veränderung von Lebensweisen und Geographien, Migration, aber auch den Widerstand und Mobilisierung gegen diese Ausbeutung und Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Nachhaltigkeit einerseits und der Ausbeutung der Natur, um die Rohstoffe dafür zu gewinnen. Ein Beispiel ist Lithium. Für unsere Elektrofahrzeuge, die zur Energiewende beitragen sollen, benötigen wir den Rohstoff.

Ulrike Flader: Tatsächlich hatten wir einige Teilnehmende, die genau an der Schnittstelle forschen, wo sich die Widersprüche und Dilemmata von kapitalistischen „grünen“ Strategien und corporate sustainability zeigen. Neben Fragen der Umweltzerstörung geht es ja auch ganz stark um Teilhabe in Entscheidungsprozessen. Es ist wichtig zu sehen, wer wie und wo Entscheidungen trifft und wie komplex die Zusammenhänge von Politik und Wirtschaft, von lokalen und globalen Kräften sind. Zahlreiche Wissenschaftler:innen schauen sehr genau hin und fragen, wie wirklich nachhaltige, alternative und faire Formen der Rohstoffverwendung und Wirtschaften aussehen könnten.

Hat sich die Rolle der Wissenschaft verändert? Muss sich die Rolle der Wissenschaft verändern?

Ulrike Flader: Es wird international stark diskutiert, was unsere Aufgaben sind. Haben wir nicht auch eine Aufgabe, diese Themen in den Vordergrund zu stellen und mit Akteuren zusammenzuarbeiten, die auf die Problematiken aufmerksam machen? Bei der Autumn School wurde ein Appell an die Wissenschaft formuliert, sich aktiv und engagiert in diese Debatten einzumischen. Wir brauchen eine engagierte Wissenschaft, die sich den wichtigen Fragen und Widersprüchen der heutigen Zeit stellt.

Hagen Steinhauer: Es wird immer deutlicher in der Forschungspraxis, dass es nicht reicht, zu sagen: Ich beschreibe die Dinge, wie sie sind. Darauf können wir uns nicht mehr zurückziehen. Es geht auch darum, eine Haltung zu zeigen und angesichts autoritärer Tendenzen klar Position zu beziehen.

Hagen Steinhauer von Arbeitsgruppe „Soft Authoritarianisms“.
© Privat

Inwiefern begünstigen sanft autoritäre Regierungen den Extraktivismus?

Ulrike Flader: Uns ist tatsächlich aufgefallen, dass solche Formen von Ausbeutung oft mit einem staatlichen Regierungsstil einhergehen, der die Grenze zwischen demokratisch und undemokratisch verwischt. Man muss sich zum Beispiel anschauen, wie diese Regierungen mit Widerspruch oder Protest umgehen. Recht wird verwendet, um Maßnahmen, wie Landnahme oder Enteignung, die heftige Eingriffe in das Leben von Menschen bedeuten, zu legitimieren, statt sie davor zu schützen oder zu kompensieren.

„Es wird immer deutlicher in der Forschungspraxis, dass es nicht reicht, zu sagen: Ich beschreibe die Dinge, wie sie sind. Es geht auch darum, eine Haltung zu zeigen und angesichts autoritärer Tendenzen klar Position zu beziehen.“ Hagen Steinhauer

Zum Extraktivismus zählen Sie auch das Sammeln von Daten. Inwiefern?

Hagen Steinhauer: Als das angefangen hat, vor rund zehn Jahren, dass Konzerne wie Meta – ehemals facebook — und Twitter unsere Daten gesammelt haben, da haben viele von uns das Problem etwas abgetan und gesagt: „Na und? Das ist doch egal. Was wollen die denn mit meinen Daten?“ Aber das ist ein gutes Beispiel dafür, wie extraktivistische Logik funktioniert: Am Anfang steht die Akkumulation. Man sammelt erst einmal alles. Und guckt später, wie man das nutzen kann, wie man daraus Kapital schlagen kann. Heute sehen wir, dass die Stellen, die diese Daten monopolisieren, eine unglaubliche Macht haben, ja sogar Wahlen entscheiden können. Globale Tech-Unternehmen, die riesige Datenmengen von uns besitzen, haben eine riesige Macht, wie das Zusammenwirken von facebook mit Cambridge Analytica bei der Wahl von Donald Trump gezeigt hat. Die Konzerne agieren parastaatlich, sie können sich aussuchen, wo sie Steuern zahlen – wenn sie es überhaupt tun. Und wenn sie verklagt werden, ist ihnen das egal. Wir brauchen eine demokratische Rückholung der Souveränität, damit jeder über seine Daten verfügen kann und internationale Konzerne nicht unabhängig von jeglicher Gerichtsbarkeit agieren können.

Ulrike Flader: Es ist wichtig aufzeigen, wie brutal und zerstörerisch diese Logiken sind. Ob es um Daten oder um Landraub und Umweltzerstörung geht. Wir beobachten eine beunruhigende Tendenz zur Ausweitung sanft autoritären Politiken und in vielen Zusammenhängen geht es auch darum wirtschaftliche Interessen, wie den Extraktivismus, zu sichern. Eine kritische Auseinandersetzung fordert uns auf, Verantwortung, Gerechtigkeit und Alternativen neu zu denken.

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