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„Man sollte stets kritisch die eigene Perspektive überprüfen“

Die Heinz Maier-Leibnitz-Preisträgerin Julia Borst gibt Einblicke in ihre Arbeit und regt an, Denkstrukturen zu hinterfragen.

Forschung

Professorin Julia Borst gilt in Fachkreisen als Vorbild für eine ethisch verantwortungsvolle Wissenschaft. Ein Grund, warum die Romanistin sowie Literatur- und Kulturwissenschaftlerin der Universität Bremen vor kurzem die wichtigste Auszeichnung für den Forschungsnachwuchs in Deutschland erhalten hat – den Heinz Maier-Leibnitz-Preis. Im Interview erzählt Julia Borst, wie wichtig es ist, auch für literaturwissenschaftliche Forschungen nicht nur die Nase in Bücher zu stecken.

Frau Borst, was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass Sie den Preis bekommen?

Von der Auszeichnung habe ich erfahren, als ich montags nach einer Woche Urlaub mein E-Mail-Postfach geöffnet habe. Die Nachricht von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ist mir natürlich sofort ins Auge gesprungen. Ich musste sie mehrmals lesen, bis ich meinen Augen wirklich trauen wollte. Der Heinz Maier-Leibniz Preis bedeutet mir sehr viel, da ich mich durch diese Auszeichnung in meiner bisherigen Arbeit und vor allem auch in meinen Forschungsschwerpunkten bestätigt sehe. Mit meinem Schwerpunkt als Romanistin im Bereich der postkolonialen Studien und der Gegenwartsliteraturen bin ich hin und wieder auch kritisiert und gefragt worden, ob ich nicht auch einmal „etwas Klassischeres“ machen will. Umso mehr freut mich nun diese Anerkennung. Ich fühle mich angespornt, den von mir eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, immer wieder neu die Denkstrukturen zu hinterfragen, in denen wir uns bewegen, und mich weiterhin für Themen zu engagieren, die mir am Herzen liegen. Natürlich hoffe ich gleichzeitig, dass der Preis mir auch dabei hilft, langfristig eine feste Anstellung an einer Universität zu finden. Denn die berufliche Situation des sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchses an deutschen Universitäten ist häufig immer noch prekär und es werden dringend mehr unbefristete Stellen benötigt, die Wissenschaftlerinnen wie mir mehr Planungssicherheit für die Zukunft bieten.

Können Sie uns ein paar Einblicke in Ihre Forschungen geben?

Ich beschäftige mich vor allem mit französisch- und spanischsprachigen Gegenwartsliteraturen. Mein Schwerpunkt liegt dabei im Bereich marginalisierter Literaturen und Kulturen außerhalb und in Europa – also solchen, die in der Gesellschaft und zum Teil auch vom Wissenschaftsbetrieb nur wenig wahrgenommen werden. Im Rahmen meiner Promotion habe ich mich zum Beispiel mit der französischsprachigen Karibik und insbesondere der haitianischen Gegenwartsliteratur beschäftigt. Haiti ist ein Land, das zu Beginn meiner Promotion – und damit vor dem Erdbeben im Jahr 2010 – nur wenigen Leuten etwas sagte. Und das, obwohl Haiti sich Anfang des 19. Jahrhunderts aus eigener Kraft aus der französischen Kolonialherrschaft befreit und die unmenschliche Praxis der Versklavung afrikanischer Menschen abgeschafft hat – zu einer Zeit als diese noch in vielen Kolonien verbreitet war. Ganz konkret ging es in meiner Dissertation um die literarische Darstellung von Gewalt und Trauma. Im Fokus stand hierbei unter anderem die erinnerungsstiftende Funktion von Literatur, die Gewalterfahrungen im kollektiven Gedächtnis präsent hält. Aber ich habe auch kritisch diskutiert, wie aus der Perspektive einer marginalisierten Kultur einseitige Stigmatisierungen aufgebrochen und über Literatur gesellschaftliche Aufarbeitungsprozesse angeregt werden.

Woran forschen Sie aktuell? Können Sie uns ein Beispiel geben?

Im Rahmen eines aktuellen DFG-Forschungsprojekts knüpfe ich zum Beispiel an das relativ neue Feld der Afroeuropäischen Studien an und widme mich afrikanischen und afrodeszendenten Autorinnen und Autoren, die auf Spanisch schreiben. Dieses kaum untersuchte literarische Feld umfasst neben Autorinnen und Autoren aus der ehemaligen spanischen Kolonie Äquatorialguinea auch solche aus nicht-spanischsprachigen Ländern wie Benin, Senegal oder Kamerun. Sie haben – meist im Zuge der eigenen Migrationserfahrung – Spanisch als Literatursprache übernommen. Gleichzeitig zählen zu diesem Feld auch Werke von Spanierinnen und Spaniern afrikanischer Herkunft. Im Zentrum steht dabei die Frage, in welcher Form die oben genannten Autorinnen und Autoren in ihren Texten diasporische Lebenswelten und Identitäten in einem Spannungsfeld von homeland und hostland verhandeln.

Das Foto zeigt die Wissenschaftlerin bei einer Tagung an der Université de Yaoundé I in Kamerun.
© Julia Borst

Wovon sind diese diasporischen Lebenswelten geprägt, die in den Texten dargestellt werden?

Zunächst durch weitreichende Ausgrenzungs- und Rassismuserfahrungen. Darüber hinaus beschreiben die Autorinnen und Autoren aber auch plurale Zugehörigkeiten, indem sie ihre Figuren nicht nur an einem Ort oder in einer Kultur verorten. Zugleich skizzieren die Texte alternative Gemeinschaftsentwürfe und mögliche Achsen der Solidarisierung, indem sie beispielsweise auf eine Tradition afrikanischen und afrodiasporischen Widerstands verweisen, an die das Individuum anknüpfen kann. Natürlich werden diese Themen nicht ausschließlich in der Literatur verhandelt, weshalb ich auch andere Medien wie zum Beispiel Filme oder Webseiten in meine Untersuchungen einbeziehe.

In Ihrer Würdigung als Preisträgerin äußert man sich anerkennend über ihre dialogbezogene und ethisch verantwortungsvolle Herangehensweise an postkoloniale Fragestellungen und Themen. Was treibt Sie an?

Als europäische Forscherin, die sich mit postkolonialen Konstellationen und Kontexten beschäftigt, und in meiner Funktion als zweite Sprecherin des Instituts für postkoloniale und transkulturelle Studien (INPUTS) der Universität Bremen ist es mir wichtig, mich stets kritisch mit meiner eigenen Perspektive auseinanderzusetzen und mich auf globalem Niveau und auf Augenhöhe mit anderen Forschenden weltweit zu vernetzen. Vor diesem Hintergrund ist es mir auch ein Anliegen, den Dialog mit den Akteurinnen und Akteuren der literarischen und kulturellen Felder zu suchen, zu denen ich forsche, sie im Rahmen von Tagungen und Publikationen einzubeziehen und ihren eigenen Perspektiven und Darstellungen Raum zu geben.

Gab es hier für Sie ein Schlüsselerlebnis?

Prägend war für mich sicherlich die Begegnung mit dem haitianischen Schriftsteller Lyonel Trouillot, als ich 2009 das erste Mal in Haiti war. Mit ihm habe ich nicht nur viele spannende Gespräche geführt, sondern er hat mich auch ganz bewusst mit meinen eigenen Vorurteilen und den Widersprüchlichkeiten in der haitianischen Realität konfrontiert. Sehr genau erinnere ich mich noch an den Tag, als ich ihm erzählte, dass ich am Vormittag mit meinem Stadtführer Elie in Cité Soleil gewesen sei, ein Viertel der haitianischen Hauptstadt, das von schwierigen Lebensbedingungen geprägt und als besonders gefährlicher Ort verschrien ist. Daraufhin hat Lyonel Trouillot mich am gleichen Abend spontan in ein sehr schickes Restaurant in Pétionville, einem der wohlhabenderen Viertel von Port-au-Prince, mitgenommen. Sein Ziel war es, mir die Kontraste und Widersprüche, die das Land prägen, direkt vor Augen zu führen. Das ist nur ein Beispiel, aber aus diesen persönlichen Begegnungen habe ich immer sehr viel gelernt. Solche Begegnungen haben mir wiederholt gezeigt, wie bedeutsam es ist, auch für literaturwissenschaftliche Forschung nicht nur die Nase in Bücher zu stecken, sondern mich auch mit den jeweiligen Lebenswirklichkeiten auseinanderzusetzen.

Gerade in Bezug auf Haiti habe ich auch begonnen bewusster wahrzunehmen, dass sich die westliche Welt häufig anmaßt, über andere Kulturen zu urteilen und die Deutungshoheit über andere Realitäten zu beanspruchen, ohne die Perspektive der Menschen, um die es geht, auch nur einzubeziehen. Mir ist es deshalb ein wichtiges Anliegen, nicht nur über andere Menschen zu sprechen, sondern insbesondere mit ihnen und davon ausgehend immer wieder kritisch meine eigene Perspektive zu überprüfen.

Hier könnt ihr ein Video von der DFG über Professorin Julia Borst sehen.

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