Vom einzelnen Gedanken zum Gesamtbild

Wie die Philosophie uns lehrt, die Welt wie ein Puzzle zu betrachten

Forschung / Uni & Gesellschaft

Was kann die Philosophie für die Gesellschaft leisten und wie bereichert das Philosophieren unser Leben in jedem Alter? Anlässlich des Welttags der Philosophie am 20. November hat up2date. mit Professor Norman Sieroka darüber gesprochen, warum eine öffentliche Kommunikation über und eine Beschäftigung mit der Philosophie so wichtig sind.

Mit welchen Fragen befasst sich die Philosophie der heutigen Zeit?

Im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist das Auffällige an der Philosophie, dass ihre Themen in besonderer Weise beständig bleiben. Die Philosophie beschäftigt sich heute noch mit den Grundfragen, die uns schon seit Jahrhunderten umtreiben: Was ist die Wirklichkeit? Wie sollen wir miteinander umgehen? Was bedeuten Freiheit, Gerechtigkeit oder Wahrheit? Was sich ändert, ist nicht die Frage selbst, sondern die Art und Weise ihrer Beantwortung.

Schon Thales von Milet versuchte, die gesamte Wirklichkeit mit einem einfachen Prinzip zu erklären: „Alles ist Wasser“. Heute mag diese Aussage absurd klingen, doch ihr methodischer Ansatz war für seine Zeit revolutionär. Er markiert einen wichtigen Schritt im Übergang von mythologischen zu rationalen Erklärungen für Naturphänomene. Daher studieren wir auch weiterhin alte Denker:innen. Wir betrachten, welche Probleme beispielsweise Gottfried Leibniz, Immanuel Kant oder Hannah Arendt lösten und ob ihre Lösungen heute noch gelten. Bei den großen Fragen nach unserem Platz in der Welt verschieben sich die Antworten jedoch ständig, da sich die Rahmenbedingungen – neue Technologien, veränderte Vorstellungen von Natur und Leben sowie gesellschaftliche Entwicklungen – immer wieder ändern. Philosophie ist daher – außer in kleinen Teilbereichen – keine Wissenschaft, die endgültige Ergebnisse oder Befunde hervorbringt, sondern ein fortlaufender Prozess: Wir suchen immer wieder nach plausiblen, an die aktuelle Situation angepassten Antworten, um unser Zusammenleben besser zu verstehen und zu gestalten.

Warum ist eine Auseinandersetzung mit Philosophie Ihrer Meinung nach in jedem Alter wichtig?

Charakteristisch für die Philosophie ist ihre stete Auseinandersetzung mit dem Leben und der Wirklichkeit als ganzer. Man könnte sie auch als Reflexionswissenschaft bezeichnen, denn sie fördert kritisches Denken, den Austausch von Argumenten, das Zuhören, das Diskutieren und das Hinterfragen. Philosophische Diskussionen helfen uns Menschen dabei, Werte zu reflektieren und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen – sei es in der Schule, an der Universität, in der Politik oder im Alltag. In einer polarisierten Welt bietet die Philosophie einen neutralen Raum, in dem unterschiedliche Sichtweisen respektvoll ausgetauscht werden können. Wenn Erwachsene philosophisch denken und diese Haltung vorleben, motivieren sie jüngere Generationen, ebenfalls Dinge zu hinterfragen und mitzudiskutieren. Deshalb sehe ich es als eine wichtige Aufgabe der Philosophie an, ihre Fragen nicht nur akademisch zu bearbeiten, sondern sie allen Alters- und Personengruppen zugänglich zu machen – beispielsweise durch Transferprojekte mit Schulen, in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit oder im Senior:innenstudium. So wird Philosophie zu einem lebendigen Bestandteil unseres Alltags und trägt idealerweise zu einer reflektierten, solidarischen Gesellschaft bei.

Welche Rolle kann die Philosophie bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen spielen?

Die Frage nach der Rolle der Philosophie in der Gesellschaft ist in gewisser Weise selbst eine philosophische Frage und wird dementsprechend auch philosophisch diskutiert. Ich will hier nur einmal nennen, welche Punkte ich persönlich für wichtig halte. Philosophie ist ja zunächst mal sehr abstrakt. Wir entwickeln keine Algorithmen oder neuen Materialien. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Philosophie keine konkreten Fragen beantworten kann. Im Gegenteil: Sie kann uns helfen, mit den großen, oft beängstigenden Themen unseres Lebens umzugehen. Und sie tut dies sowohl auf der Ebene gesellschaftlicher Diskussionen etwa zur Nachhaltigkeit oder Armutsbekämpfung wie auch auf der Ebenen individuellen Erlebens.

„Philosophie kann helfen, diese unterschiedlichen Identitäten zu einem stimmigen Gesamtbild zu verknüpfen, sodass wir unser Leben nicht zersplittert, sondern zusammenhängend erfahren.“

Die Themen, über die wir philosophieren, variieren dementsprechend je nach Alter und persönlichem Interesse. Für Kinder könnte das zum Beispiel die Frage nach der „Welt“ sein. Hat sie einen Anfang? Ist sie „unendlich“ oder „endlos“? Dies führt dann schnell zu abstrakten Raum- und Zeitvorstellungen sowie zu Fragen nach dem Urknall und dem „Davor“. Im Erwachsenenaltersetzen sich viele Menschen beispielsweise mit dem Tod und der eigenen Endlichkeit auseinander. Bei der philosophischen Auseinandersetzung mit einem Thema erhalten wir allerdings in der Regel keine vorgefertigten Patentlösungen, sondern wir stoßen einen Prozess des individuellen und gemeinsamen Nachdenkens an, der uns Orientierung und ein Stück innere Ruhe schenkt. In vielen Kulturen ist Philosophie daher eng mit Spiritualität verbunden. Im Westen haben wir das etwas aus den Augen verloren, doch die Fähigkeit, durch Reflexion Halt zu finden, bleibt meines Erachtens ein wichtiges Potential der Philosophie. Von daher gehört zum philosophischen Arbeiten für mich immer auch, Dinge vorzuleben: zuhören, diskutieren, die eigenen Überzeugungen im Handeln sichtbar machen.

Ein weiterer Kernpunkt ist die integrative Kraft der Philosophie. Wir dürfen uns nicht auf Teilgebiete beschränken, sondern müssen fragen, wie all diese Bereiche – Wissenschaft, Moral, Politik, Familie, Staatsbürgerschaft – zusammenhängen. Jeder von uns verkörpert verschiedene Rollen: Familienmitglied, Bürger:in, Studierende:r, Mitglied eines Vereins, Fahrradfahrer:in und so weiter. Philosophie kann helfen, diese unterschiedlichen Identitäten zu einem stimmigen Gesamtbild zu verknüpfen, sodass wir unser Leben nicht zersplittert, sondern zusammenhängend erfahren. Das ist für mich die eigentliche und zugleich herausfordernde Aufgabe der Philosophie.

Wie und worüber wird an der Universität Bremen in der Philosophie geforscht?

Da gibt es selbst an unserem kleinen Institut schon eine ziemlich große Bandbreite an Themen, die von Politik oder Medizinethik über Feminismus und unsere Sprache bis hin zu Themen aus der Wissenschaft reicht, wie etwa meine Arbeiten zum Thema Zeit. Typischerweise spielt dabei Abstraktion eine wichtige Rolle. Wir betrachten beispielsweise ganz allgemeine begriffliche Zusammenhänge und versuchen dabei, Muster und Strukturen zu erkennen. Methodisch ist die Philosophie also sozusagen eine Strukturwissenschaft und daher meiner Meinung nach am ehesten mit der Mathematik vergleichbar, nur dass Philosoph:innen ihre Ergebnisse anders aufschreiben. Unsere „Empirie“ besteht oftmals darin, dass wir erst beim Schreiben richtig merken, wie die Dinge zusammenpassen oder nicht zusammenpassen – quasi wie beim Puzzeln. Dann versuchen wir, die Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen zu entdecken.

Diese begriffliche Reflexion darf aber selbstverständlich nicht „im luftleeren Raum“ passieren. Wir wollen ja gerade solche Fragen bearbeiten, die eine lebensweltliche Relevanz haben. Deshalb sind wir immer auch auf Inhalte aus anderen Disziplinen angewiesen. In meinen jüngsten Forschungen habe ich mich zum Beispiel mit der Beziehung der Menschen zu neuen Technologien befasst und an zwei Projekten zu KI, Robotik und Weltraumforschung mitgearbeitet. Dabei haben wir die Faszination der Menschen für das Weltall untersucht und auch den allgemeinen Explorationsdrang, der uns anzutreiben scheint. Noch dringlicher war allerdings die Frage, wie wir mit Robotern und KI-Systemen umgehen und wie die Beziehung zwischen Mensch und Maschine aussehen kann. Um das zu erkennen und zu analysieren, scheint mir ein philosophisches Vokabular erforderlich, das über die klassische Zweiteilung Mensch-Maschine hinausgeht und sicherlich auch neue rechtliche Konzepte notwendig machen wird.

Mehr Informationen

Wer mehr über das Thema erfahren möchte oder sich für ein Studium der Philosophie interessiert, findet weitere Informationen auf den Webseiten des Instituts für Philosophie der Universität Bremen.

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