© Annemarie Popp / Universität Bremen
„Mir ist die Wissenschaftlichkeit sehr wichtig“
Ein Gespräch mit Professorin Irene Dingeldey über ihre Zeit als Direktorin am Institut Arbeit und Wirtschaft
Fünf Jahre lang leitete die Arbeitsmarktforscherin Irene Dingeldey das Institut Arbeit und Wirtschaft (iaw). Im Oktober wird sie offiziell als Direktorin verabschiedet und widmet sich künftig wieder mehr ihren Forschungsprojekten. up2date. sprach mit ihr über das iaw, ihre Zeit an der Spitze des Instituts und ihre Zukunftspläne.
Frau Dingeldey, Sie sind seit 2009 am Institut Arbeit und Wirtschaft tätig, davon über zehn Jahre in der Institutsleitung. Was bedeutet das iaw für Sie?
Als ich an das iaw kam, war es für mich die Erfüllung des Traums einer unbefristeten Stelle in der Wissenschaft an einem Institut, das mich von den vielfältigen Themenspektren sehr interessierte. Das iaw ist ja ein sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Institut in gemeinsamer Trägerschaft der Universität und der Arbeitnehmerkammer Bremen. Es hat den Auftrag, zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmer:innen beizutragen und den Wandel der Arbeitswelt zu untersuchen. Neben der wissenschaftlichen Analyse geht es auch immer um den Praxisbezug: Also Probleme sichtbar zu machen und Lösungsmöglichkeiten zu zeigen. Das macht das iaw aus und war für mich all die Jahre eine wichtige Motivation.
Was sind Ihre Forschungsthemen?
Ich beschäftige mich viel mit dem Vergleich von Wohlfahrtsstaaten und der Arbeitsmarktpolitik in verschiedenen Ländern. Beispielsweise habe ich in meiner Habilitation die Hartz-IV-Reformen mit der Sozialpolitik in Dänemark und Großbritannien verglichen. So gibt es in Dänemark eine viel stärkere Pflicht zu arbeiten, zum Beispiel auch für Alleinerziehende. Gleichzeitig gibt es dort aber auch eine sehr gute Kinderbetreuung, die das möglich macht. Ein weiteres Thema, mit dem ich mich viel auseinandersetze, sind Gewerkschaften. In Deutschland ist die Bindung von Arbeitnehmenden an Gewerkschaften viel weniger ausgeprägt als in anderen Ländern und nimmt seit Jahren ab. Dadurch werden die Gewerkschaften schwächer. Die Zahl der Tarifverträge geht zurück und in Folge ist ein vergleichsweise großer Niedriglohnsektor entstanden. Grundsätzlich interessiert mich auch der internationale Aspekt, der Blick ins Ausland um zu schauen: Wie ist die Arbeitswelt in anderen Ländern im Vergleich zu Deutschland? Was ist besser, wovon können wir lernen? So stehen höhere Tarifbindungen und/oder höhere Mindestlöhne als in Deutschland für deutlich kleinere Niedriglohnsektoren in anderen Ländern. Wichtig ist aber auch: Was ist bei uns besser? Zum Beispiel ist ein Studium bei uns weitgehend kostenlos, abgesehen vom Semesterbeitrag. In den meisten anderen Ländern fallen hohe Studiengebühren an und bilden eine Hürde beim Zugang zu den Universitäten.
Hatten Sie in Ihrer Zeit als Direktorin überhaupt die Möglichkeit zu forschen? Das Amt bringt ja wahrscheinlich jede Menge anderer Aufgaben mit sich.
Ja, da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Als Direktorin konnte ich mich viel weniger um meine Forschung kümmern, als ich es gerne getan hätte. Das war auch ein Grund, weshalb ich mich nicht erneut um das Amt beworben habe.
Haben Sie schon ein konkretes Projekt im Blick?
Es ist noch nichts spruchreif. Generell möchte ich aber gerne zu dem Thema Finanzierung des Wohlfahrtsstaats arbeiten und in dem Zusammenhang den Ansatz „Tax the rich“ beleuchten. Auch hier ist mir ein internationaler Vergleich wichtig: Wie ist die Finanzierung in anderen Ländern geregelt? Gleichzeitig interessieren mich die verschiedenen Positionen politischer Akteure zu Erbschaftssteuer oder Vermögenssteuer in Deutschland.
Schauen wir auf Ihre Zeit als Direktorin am iaw. Warum haben Sie sich 2020 für das Amt beworben?
Ich war 2020 habilitiert und war bereits längere Zeit Abteilungsleiterin und zudem stellvertretende Direktorin. Ich wurde auf Vorschlag meines Vorgängers, Günter Warsewa, angesprochen, ob ich das Amt übernehmen möchte. Ich habe mich um das Amt beworben, weil ich in dieser Position die Möglichkeit hatte, die Ausrichtung des Instituts mitzugestalten.
Welche Vision hatten Sie für das iaw und konnten Sie etwas davon umsetzen?
Mir ist die Wissenschaftlichkeit sehr wichtig. Also dass die Mitarbeitenden am iaw innovative und evidenzbasierte wissenschaftliche Methoden anwenden und in wissenschaftlichen Journals veröffentlichen. Ich habe einen Fokus auf Nachwuchsförderung gerichtet und darauf, mehr Mitarbeitende zur Promotion zu führen. Das ist mir gelungen. Eine andere Initiative von mir war es, die Herausgabe von wissenschaftlichen Zeitschriften ans Institut zu holen. Neben dem Journal of Political Sociology, das Martin Seeliger betreut, geben wir seit 2024 die Vierteljahreshefte zur Arbeits- und Wirtschaftsforschung heraus - als Nachfolger der 2023 eingestellten Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung.
Was war die größte Herausforderung in den vergangenen fünf Jahren?
Ohne Zweifel die Pandemie. Die brach ja unmittelbar nach meinem Antritt als Direktorin aus. Die ganzen gewohnten Strukturen waren auf einmal weg. Alle waren zu Hause und die Kommunikation verschob sich in den virtuellen Raum. Die direkten Kontakte fehlten. Wir haben darauf reagiert, indem wir digitale Angebote machten, die Lehre online durchführten und auch neue Mitarbeitende auf diesem Weg einarbeiteten.
Wie ist die Situation heute?
Teilweise wirkt die Corona-Zeit bis heute nach. Viele Meetings und Konferenzen sind im digitalen Raum geblieben. Das ist in gewisser Hinsicht positiv, da Zeit und Wege eingespart werden. Gleichzeitig ist es aber auch sehr wichtig, sich regelmäßig persönlich zu treffen, da sonst zwischenmenschlich zu viel auf der Strecke bleibt. Glücklicherweise gab es für uns am iaw tatsächlich so etwas wie einen Schluss-Strich, der die Corona-Zeit unterbrochen und die persönlichen Beziehungen wieder gestärkt hat.
Was war dieser Schluss-Strich?
Unsere Jubiläumsfeier Mitte September 2022, die eigentlich ein Jahr zu spät stattgefunden hat. Aber wir wollten die Feier unbedingt in Präsenz veranstalten und haben sie darum verschoben. Sie war ein voller Erfolg und im Rückblick deshalb auch eines der wichtigsten Ereignisse in meiner Zeit als Direktorin.
Was werden Sie als erstes tun, wenn Ihre Zeit als Direktorin vorüber ist?
Im Oktober ist Dr. Timur Ergen vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung aus Köln als neuer Direktor ans iaw gekommen, aber seit April wird das Amt bereits von Dr. Martin Seeliger interimsmäßig verwaltet. In den vergangenen Monaten konnte ich also bereits anfangen, mich wieder mehr auf die Forschung zu konzentrieren und schreibe aktuell zusammen mit René Böhme zum Beispiel einen Artikel über den Mythos von „arbeitsunwilligen“ Arbeitslosen. Außerdem habe ich bereits begonnen für einen Forschungsantrag zu recherchieren, in dem es um die bereits erwähnte Finanzierung des Wohlfahrtsstaates geht.
Was wünschen Sie sich für das iaw in Zukunft?
Ich wünsche mir, dass das iaw seinem Auftrag zum Wohle der Arbeitnehmer:innen in Bremen und darüber hinaus zu forschen weiterhin nachkommt. Ich hoffe, dass dabei immer wieder neue und relevante Themen aufgenommen und wichtige gesellschaftspolitische Diskussionen angerissen und fortgeführt werden. Wichtig ist mir dabei auch, dass populistische Verkürzungen von Problemlagen durch wissenschaftlich untermauerte Fakten entkräftet werden. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, wünsche ich mir, dass Anerkennung und finanzielle Unterstützung des iaw seitens der Träger aufrecht erhalten oder besser noch ausgeweitet werden.
Zur Person
Irene Dingeldey wurde 1963 in Bensheim geboren. 1982 bis 1989 hat sie Politikwissenschaften und Germanistik in Heidelberg und Madrid studiert. Anschließend ging sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Universität Bielefeld, wo sie 1996 die Promotion abschloss. Nach beruflichen Stationen in Weingarten und Gelsenkirchen, zog Irene Dingeldey im Jahr 2000 nach Bremen. Sie arbeitete zunächst als wissenschaftliche Assistentin am Zentrum für Sozialpolitik und wechselte 2009 als Abteilungsleiterin ans Institut Arbeit und Wirtschaft. 2014 bis 2019 war sie stellvertretende Direktorin am iaw und übernahm 2020 den Posten als Direktorin, der alle fünf Jahre neu besetzt wird. Im Jahr 2025, hat sie sich nicht wieder um das Amt als Direktorin beworben. Im Oktober wird sie offiziell als Direktorin verabschiedet, forscht aber weiterhin am Institut bis zum Ruhestand (spätestens Ende 2029).
Institut Arbeit und Wirtschaft (iaw)
Das iaw wurde im November 2001 durch einen Kooperationsvertrag zwischen der Arbeitnehmerkammer Bremen und der Universität Bremen gegründet und wird seitdem in gemeinsamer Trägerschaft betrieben. Aktuell arbeiten rund 30 Personen am iaw. Das Institut hat drei Abteilungen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten zum Wandel der Arbeitsgesellschaft, zu Perspektiven nachhaltiger Beschäftigungsfähigkeit und zu Regionalentwicklung und Finanzpolitik forschen. Die Arbeit des iaw umfasst ein breites Spektrum von Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Wissenstransfer. Auch wissenschaftlich beratende Dienstleistungen, wie Regionalstudien, Gutachten oder Evaluationen, gehören zu den Aufgaben. Die Forschungsergebnisse werden in Büchern oder wissenschaftlichen Journals publiziert. Gleichzeitig gibt es für den Wissenstransfer in die Gesellschaft so genannte Policy Briefs, also kurze Zusammenfassungen eines Themas auf drei Seiten mit den wichtigsten Ergebnissen, sowie Workshops oder andere Veranstaltungsformate mit Praxispartnern.